Wann ist die Auslegung eines verbindlichen Rechtstextes zulassig? Im angelsachsischen und franzoesischen Rechtskreis pflegt man diese Frage bis heute unter Stichworten wie Sens clair- oder Acte clair-doctrine zu eroertern. Danach verbietet sich die Auslegung, wenn ein Rechtstext klar und eindeutig formuliert ist. Die Sens clair-doctrine beruht auf dem Gedanken, dass ein Text nur dann der Auslegung bedurftig sei, wenn er dunkel, zweifelhaft oder unklar sei. Im deutschsprachigen Rechtskreis herrscht dagegen die Ansicht, dass im Grundsatz auch eindeutig formulierte Rechtstexte auslegungsfahig seien. Diese Auffassung pflegt man auf die Wende zur modernen Hermeneutik zuruckzufuhren, die in den Rechtswissenschaften durch Friedrich Carl von Savigny vollzogen wurde. Im Gegensatz zur vorkritischen Hermeneutik beruht die moderne Hermeneutik auf der Pramisse, dass nicht das Verstehen, sondern das Missverstehen die Regel ist. Deshalb bedurfen auch scheinbar klare oder eindeutige Texte der Auslegung. Stephan Meder skizziert die Entwicklung der hermeneutischen Theorie bei Savigny vor dem Hintergrund von dessen Verbindungen mit anderen Protagonisten der modernen Hermeneutik wie z.B. Friedrich Schleiermacher oder August Boeckh. Dabei zeigt sich, dass wesentliche Elemente des Bildes, das aktuelle Methodenlehren von Savignys Analyse des Interpretationsgeschehens zeichnen, einer Korrektur bedurfen.