Excerpt from Volkerpsychologie: Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte
Die Probleme der Mythologie und Religionsgeschichte stehen gegenwartig, wie bekannt ist, im Vordergrunde des Interesses der beteiligten wissenschaftlichen Kreise. Mehr als fruher suchen Philologen und Historiker, Theologen und Ethnologen in vereinter Arbeit der grossen Frage der Religionsentwicklung naher zu treten und in der Durchforschung der Vorstellungskreise der Kultur- wie der Naturvolker ein immer reicher werdendes Material zur Losung der hier sich darbietenden ethnologischen und historischen Einzelprobleme herbeizuschaffen. Der Psychologie scheint inmitten dieser wetteifernden Bemuhungen beinahe die Rolle des Poeten in Schillers Teilung der Erde zugedacht zu sein. Freilich nicht, weil sie es mit wichtigeren und hoheren Dingen zu tun hatte, sondern umgekehrt, weil sie gegenwartig noch so sehr mit den elementaren, ihr zum Teil mit der Physiologie gemeinsamen Vorfragen beschaftigt ist, dass es ihr bis jetzt an Zeit fehlte, in das Seelenleben selbst tief genug einzudringen, um mit den neu erworbenen Hilfsmitteln und Anschauungen den verwickelten Problemen der Mythenbildung und der religiosen Entwicklung naher zu treten. Darum gibt es ja, nach der bekannten Regel, dass man jeweils geneigt ist, den momentan gewonnenen Standpunkt fur einen definitiven zu halten, selbst unter den Psychologen nicht wenige, die diesen Ubergangszustand mit der endgultigen Aufgabe ihrer Wissenschaft verwechseln.
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